Das Beste kommt zum Schluss…aber warum erzähle ich euch das? Ganz einfach: purer Narzissmus
! Quatsch – weil es 2019 eine Fortsetzung, nein, keine Fortsetzung, eine Steigerung gibt!
Wie im Jahr zuvor wurde kurz geplant. Pflicht: viel Platz für Spontanität. Kür: da gibt es einen Herren südlich von Turin, der Delta S4 neu baut, den könnten wir ja besuchen. Und wenn wir schon da unten sind könnten wir auch den Händler besuchen, der da ganz in der Nähe ist und unglaubliche Rallye-Autos anbietet. Ach ja, Lingotto, das frühere Fiat-Werk in Turin mit der ‚La Pista‘ auf dem Dach soll es sein. Und ein Kultur-Progamm in Turin – gehört eher zu Pflicht als Kür. Dann könnten wir ja noch ins Casa Martini, wenn wir schon in der Ecke dort sind. Sag mal, reichen 4 Tage? Ok, wir specken zwar nicht ab, sind uns aber bewusst, dass wir womöglich das eine und andere sausen lassen müssen.
Und es begab sich: die Spezl haben nochmal nach der Collezione Riposa recherchiert. Und -yippieh, wir habens entdeckt
: Fiat hat im April das ‚Heritage Hub‘ eröffnet, da stehen die Lancias - da müssen wir hin!
Tag 1
Wir fahren in die Nähe von Cuneo, und besuchen dort Luca. Der ist etwas jünger als wir, ziemlich erfahren im Rallye-Sport und hat sich dem Lancia 037 und Delta S4 verschrieben. Wir sind völlig perplex, als wir vor dem Anwesen stehen
…
Die Pietät gebietet es mir, erst gar nicht zu fragen, ob ich fotografieren darf, so gibt’s vom Atelier keine Fotos. Das ist in den Endzügen des Umbaus, und sieht schon ganz chic aus. 2 S4 Stradale stehen da, die sind quasi im Kundendienst. Wie auch immer, wir haben keine Ahnung, ob es dafür einen Markt gibt, und erst Recht nicht wie er es macht, aber er reproduziert Teile für den 037 und den S4. Von der Zeichnung über den Gussrohling bis zum beispielsweise fertig bearbeiteten Zylinderkopf – und das mit einer Leidenschaft und einer Qualität, die wirklich Respekt verdient. Und nicht nur das, er baut die Autos komplett neu – den Delta S4 aus dem Nichts und den 037 wie Lancia es damals auch machte: auf Basis des Beta MonteCarlo. Je länger wir miteinander quatschen und je mehr wir uns kennenlernen, desto mehr springt der Funke über. Wir haben nicht das Gefühl, das wir Lucas Zeit rauben, vielmehr sieht es danach aus, als ob sich eine Freundschaft entwickeln wird. Er erzählt, dass er das Management der Ferien-Villa übernommen hat und plant, dort kulturbegeisterten und wohlhabenden Gästen besondere Autos näherzubringen und solventen Petrolheads die Schönheit des italienischen Lebensstils näherzubringen. Aber dazu an anderer Stelle mehr.
Tag 2
Wir haben wir ein kurzes Intermezzo bei einem Autohändler, der unglaubliche Autos anbietet. Hier steht ein Ford RS200, dort ein Tour de Corse, hier ein Ferrari 365, 2 Fiat 131 Gruppe 4, ein Delta S4 Corsa, er hebt eine Husse, unter der ein Ferrari 250 GTO steht – wir sind überwältigt! Scheinbar gibt es nicht nur Leute, die zu viel Geld haben, sondern auch solche, die zu viel Geld übrig haben… ‚I sell everything expect my wife!‘ sagt der Händler, und ‚you just need to have the money. That’s the only problem, of course not a small one, but it’s just one‘. Natürlich merkt er schnell, dass wir nicht zu seinem Klientel gehören, dementsprechend weist er uns darauf hin, dass wir bei einem Händler und nicht im Museum sind – fotografieren nicht erlaubt. Nach 10 Minuten sind wir wieder draußen, mit einem etwas schalen Nachgeschmack… richtig willkommen waren wir nicht.
http://www.autoieri.eu/Sei‘s drum, beeindruckend war es dennoch.
Am Mittag fahren wir zurück nach Turin. Es ist Freitag, das Programm für den Nachmittag steht an sich schnell fest: erst zu dem Herrn, der seinerzeit den Delta S4 entworfen hat. Vorsorglich haben wir die Adresse des Designers auf unserer potential-to-do-Liste vermerkt, das blaue Buch ‚Delta S4‘ hat den Namen verraten, das Internet die Adresse. Anschließend ins Heritage Hub, vorsorglich am Freitag, nicht dass es am Wochenende doch geschlossen hat – wir würden uns bestimmt ärgern.
Wir stehen vor einer gepflegten, attraktiven Wohn-Anlage im nördlichen Turin, und leider funktioniert die Klingel nicht. Aber wir sind in Italien, also fragen wir den Nachbarn. Der ist sehr hilfsbereit und meint, er würde die Nachbarin fragen. Oh, das ist uns nicht wirklich recht! Doch, doch, das ist gar kein Problem, die Nachbarin ist Brunos Schwester. Also Brunos Schwester aus dem Haus geklingelt: wo ist Bruno? Die Dame, vermutlich Anfang 70, nimmt ihr Telefon und ruft ihn an. Niemand zu Hause, also geht sie zu dem Haus hinüber und schaut zu den Fenstern rein. Zwischenzeitlich kommt ein Auto in die Anlage gefahren. Der Nachbar meint ‚that’s his brother in law‘ und haut den Herren, auch Anfang 70 an: wo ist Bruno? Der Herr nimmt auch sein Telefon und ruft Bruno an. Hey Bruno, wo bist du? Hier stehen zwei Jungs, die haben ein blaues Buch von deinem Auto in der Hand und wollen dich sprechen! In der Tat, wir sind in Italien… nach einem kurzem Telefonat meint der Herr, heute wäre es schlecht, aber wenn wir morgen gegen Mittag nochmals vorbeischauen würde Bruno sich Zeit für uns nehmen. Wow
! Das Angebot nehmen wir natürlich sehr gerne an!
Also bleibt der Nachmittag für das Heritage Hub. Wir fahren wieder quer durch Turin, und am Ende fahren wir in eine Straße, die uns irgendwie bekannt vorkommt... moment mal – das ist doch, nee, das kann doch nicht sein, doch das ist doch, ja, klar, das ist die Via Plava, hier waren wir doch letztes Jahr auch
! Und es ist wieder die Pforte, an der wir letztes Jahr schon waren. Und abgewiesen wurden
! Heute läufts anders, wir wissen ja, dass dort das Heritage Hub ist, außerdem ist es groß an der Halle angeschrieben. Und öffentlich ist es scheinbar auch. Ok, wo parken wir? Na, auf dem Gelände
! Wir fahren an die Pforte und der Pförtner springt schon fuchtelnd zu uns her. ‚You can’t park in here!‘ Als der Pförtner das blaue Delta S4 Buch auf Dirks Schoss sieht ändert sich seine Stimmung komplett: ‚Ah, Lancia Club? You are from the Lancia Club?‘ Ich höre Dirk ‚Si!‘ sagen. Völlig freundlich erklärt der Pförtner uns, dass wir außerhalb parken und wieder zur Pforte kommen sollen. Öhm… in uns kommt das Gefühl auf, genau hier, hier an dieser Stelle, vor noch nicht einmal 1 ½ Jahren, also genau hier, aber so etwas von angelogen worden zu sein
! Die attraktive Pförtnerin letztes Jahr wusste ganz genau, wo die Autos stehen
! Und jetzt verstehen wir auch, dass sie am Telefon nicht wegen dem Standort der Autos diskutiert hat sondern ob wir sie sehen können. Stellt euch mal vor, die haben uns mitten ins Gesicht gelogen
! Aber euch geben wir’s zurück, wir gehören nämlich gar nicht zum Lancia Club, ätsch
!
Schmunzelnd und mit Besucherausweis gekleidet betreten wir die Halle und sind beeindruckt: 15.000 m² Stahlkonstruktion mit Shed-Dach und obenliegenden Versorgungsleitungen, riesengroß und mehr oder minder im originalen Zustand erhalten! Und voll mit Autos, unzählige Autos, alte, neue, schöne, noch schönere, gar nicht so schöne 1990er-Jahre ButterundBrot-Autos, edle Autos, grandiose Autos, einfach Unmengen an Autos
!
Nicht präsentiert wie im Museum, ob der schieren Menge an Fahrzeugen kommt eher der Charakter eines Depots auf. Was die Atmosphäre aber eher unterstreicht.
Und da stehen sie, die ganzen Preziosen: MonteCarlo Turbo, LC2, Fiat Dino, Stratos, 131, Flaminia, Fulvia und wie sie alle heissen, wow
!
Und – Forza Lancia!, klar, natürlich, der Volksheld: eine ganze Armada Delta Integrales in allen möglichen Ausbaustufen und Beklebungen.
Warum wir eigentlich hier sind… Delta Esse Quattro e Zerotresette, live, bunt und in Farbe
!
Wie ich den S4 so ansehe wird mir langsam klar, warum Bruno nur einen Auftrag von Lancia bekommen hat… schön ist wirklich anders
. Je länger ich mir aber das Auto ansehe und all die Details erkenne, die ausschließlich auf ‚gewinnen!‘ designt sind kommt er mir gar nicht mehr so hässlich vor… aus hässlich wird kompromisslos. Und aus kompromisslos wird langsam schön. Nicht schön im Sinne von gefällig, nicht wohlproportioniert, nicht dem Auge schmeichelnd - sondern schön im Sinne von konsequent, von zielgerichtet, von vor Siegesabsicht strotzend.
Neben dem S4 steht die Gruppe S-Studie ECV, ganz anders als der S4, viel gefälliger, fast wohlproportioniert. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass der ECV trotz gelungenem Design nochmal um einiges mehr kompromissloser als der S4 ist.
Mit etwas Anlaufschwierigkeiten freunden wir uns mit dem Sammlungsverantwortlichen an (hat er womöglich herausgefunden, dass wir nicht zum Lancia Club gehören
?) und dürfen jetzt ganz offiziell näher an die Autos ran
.
Ich schaue mir nochmal die beiden Straßen-Versionen der Rallye-Ableger an. Der 037 ist im Serientrimm ein richtig schnuckes Auto, gefällt mir wirklich sehr gut! Ok, der lange Radstand irritiert das Auge etwas. Aber die fließende, kompakte Form hat etwas. Daneben der S4. Warum nur wurde der bloß in einem so komischen rotbraun angeboten? Italienische Sportwagen müssen doch rot sein, oder?
Ein paar letzte Aufnahmen, als die tiefstehende Sonne durch die Fensterfront scheint. Fast so, als wollte sie den einstigen Rennsportgrößen noch einmal zu ihrem früheren Glanz verhelfen. Wir sind geflasht
!
https://www.fcaheritage.com/de-de/heritage/locations/heritage-hubDoch es geht weiter im Programm: Lingotto und La Pista. Das Gebäude ist riesengross, und da geht es am Nord- und Südende tatsächlich eine Rampe hoch und oben ist ein Oval mit zwei Steilkurven auf dem Dach
! Wir fragen uns: warum macht man so etwas? Warum, wenn doch zu der Zeit, als das Gebäude erstellt wurde ringsum genug unbebautes Land zur Verfügung stand? Wir können es uns nur so erklären: es war schlicht, um der Welt zu demonstrieren, wie fortschrittlich Fiat ist.
In der Shopping Mall steht ein Integrale: welch ein Zufall - der Delta-Club veranstaltet seinen Christmas-Day auf der La Pista. Am Sonntag. Müssen wir da vielleicht
…?
Tag 3
Pünktlich als wären wir Deutsche stehen wir um 11:00 Uhr mit dem blauen Lancia-Buch wieder vor Brunos Haus. Heute ist es anders als gestern, das Haus ist belebt. Wir werden erwartet und empfangen, als wären wir Freunde seit eh und je. Neben Bruno steht ein junger Mattei und stellt sich in sehr gutem Englisch als Sohn von Bruno vor. Bruno selbst spricht kein Englisch, so hat er seinen Sohn als Live-Dolmetscher gebucht - diese Aufgeschlossenheit Fremden gegenüber ist schlicht unglaublich… wir werden ins Brunos Atelier gebeten, auf dem Schreibtisch liegt auch ein blaues Lancia-Buch, in den Regalen stehen S4-Modele, auf dem grossen Tisch liegt die Mappe mit all den Zeichnungen und Skizzen des Projekts 038. Wir kommen ins Gespräch, stellen uns vor und erläutern, warum und wie wir hierhergekommen sind. Was für uns nichts allzu großes ist, schließlich machen wir ja einen Freunde-Trip an dem alles möglich sein kann, scheint Bruno in seiner Arbeit zu bestätigen. Bruno kommt ins Reden, erzählt, dass er in den 1970er Jahren bei Pininfarina und Giugiaro gearbeitet hat bis er sich um 1980 selbstständig gemacht hat. 1983 wurde er von Lancia angefragt, ob er das Projekt 038 zeichnet. Eigentlich hätte Pininfarina den Auftrag machen sollen, denen war das gesteckte Zeitfenster von wenigen Monaten aber zu eng und so lehnten sie ab – und Lancia stand ohne Design da. Bruno willigte ein, wie er erzählt, und der Auftrag hat nur wenige und hauptsächlich technische Rahmenbedingungen: Radstand, vielvielviel Luftzufuhr im hinteren Bereich des Fahrzeuges, und weiterhin Grill, Fronthaube und Windschutzscheibe vom Serien-Delta. Bruno schmunzelt: dass der 1. Prototyp dunkelblau-metallic war ist uns bestimmt schon aufgefallen, oder? Stimmt eigentlich, italienische Rennautos sind immer rot. Oder weiß, wenn Martini Racing die Finger irgendwie drin hat. Aber der Prototyp des Delta S4 war dunkelblau. Und dazu müssen wir in der Zeit und den technischen Möglichkeiten etwas zurück gehen: Entworfen hat Bruno wie üblich mit schwarzer Tusche, und vervielfältigt wurde der Entwurf mittels Blaupause. Und Blaupausen sind, deshalb der Name, blau. Was geschah? Bruno hat die Blaupausen ins Werk gebracht, und damit war für Luigi und Pietro aus der Lackiererei klar: wenn der Designer sagt 'blau!', dann meint er 'blau!'. Und lackierten eben blau. Mattei bremst Bruno ein, er kommt mit Übersetzen nicht mehr hinterher, so ist Bruno am erzählen
. An einem anderen Tag fährt Bruno wieder ins Werk, um seinen Entwurf vom Fiat-Vorstand abnehmen zu lassen – an die Namen der anwesenden Herren kann Bruno sich nicht mehr erinnern, aber es waren die Ranghöchsten - womöglich war Giovanni Agnelli selbst zugegen… Der dunkelblaue Prototyp wird begutachtet, und offenbar ist keiner der Herren von dessen Erscheinung angetan. Einer der Herren meinte, dass der Entwurf wegen seiner dreieckigen Hutzen links und rechts am Kragen aussehen würde wie eine Nonne. Worauf ein anderes hohes Tier entgegnete: ja, aber eine vom Land. Wäre sie aus der Stadt hätte sie Stil
. Und damit war das Design abgenommen
.
Bruno blättert in seiner Mappe, und zeigt uns die ganzen Entwürfe vom Exterieur und Interieur, da das Rallye-Auto viele Instrumente haben musste beispielweise sollte das Cockpit sehr glattflächig sein um diese frei positionierbar anbringen zu können. Er erzählt über den Dachaufbau des S4, dass es seine Idee war, die Hutze beweglich zu machen: So kann man sie beim Straßenauto zugunsten der Optik ganz unten halten und beim Rennauto für die Frischluftzufuhr ganz aufstellen. Bruno erzählt und erzählt, dabei schaut er sich einen Entwurf des Autos von außen an und meint etwas gedankenverloren: ich kann mir heute nicht mehr erklären, warum ich damals Marone als Farbton verwendet habe… Das Bild des Stradale-S4 aus dem Heritage Hub vor Augen und die Geschichte der Blaupause vom Prototyp noch im Ohr läuft unweigerlich Kopfkino ab
: Luigi und Pietro hatten in der Lackiererei nur ausgeholfen, tatsächlich waren sie im Marketing angestellt
!
Zwei Stunden waren wir bei Bruno und Mattei, und als wir uns verabschieden fühlt es sich an, als hätten wir zwei langjährige Freunde besucht. Die Art, mit der uns begegnet wurde, der Respekt füreinander und die Aufgeschlossenheit der beiden ist nicht zu beschreiben. Grazie Mille
!
https://de.wikipedia.org/wiki/Cyanotypiehttp://www.giardinodesign.com/Tag 4
Heute ist 1. Advent. Obwohl das Fiat-Museum nur sonntags geöffnet hat entscheiden wir uns für ein kleines Kulturprogramm. Im Casa Martini geht es um die Geschichte des Weins, um italienischen Lebensstil, und, klar, um Martini. Das Museum befindet sich in den alten Gewölbekellern des Firmengebäudes und spannt die Geschichte von griechischen Amphoren über alle möglichen Utensilien des Weinkelterns bis zu allem, was rund um das Weinkeltern dazugehört, beispielsweise das Küfer-Handwerk.
Naja, ganz ohne Autos geht’s halt doch nicht
…
Zurück nach Lingotto, nochmal auf die La Pista und gucken, was die Delta-Jungs auf die Beine stellen. Leider regnet es, dennoch stehen 40 Integrales in Reih und Glied. Die Hoffnung, unter den Deltona-Clubbern jemanden zu finden, der irgendwas mit dem S4 am Hut hat, erfüllt sich leider nicht. An sich schade, aber enttäuscht sind wir deshalb aber nicht. Hätte ja sein können…
http://www.deltona.it/deltona/home-deltona-community/Wieder zurück zu Hause fühlen sich die folgenden Tage im Büro irgendwie leer an. Trotz des völligen Eindrücke-Overkills - oder vielleicht gerade deswegen - ist der Kopf klar und die Gedanken zielgerichtet. Die Arbeit geht gut von der Hand, obwohl das Hirn gefühlt noch 800 km südlich des Körpers ausgelagert ist. Schätzungsweise müssen wir spätestens nächstes Jahr nochmals nach Italien fahren um es uns wieder einzuverleiben… Bella Italia, amore mio
!